Kategorie: Europa

  • Die Postkarte von Anne Berest

    Es ist schon einige Jahre her, dass ich ‚Suite française‘ von Irène Némirovsky gelesen habe. Nachdem ich nun ‚Die Postkarte‘ von Anne bereits nahezu in einer Woche verschlungen habe, werde ich es nochmal zur Hand nehmen.

    Anne Berests Schreibstil hat mich ebenso gefesselt, wie die Struktur, mit der sie in diesem 525 Seiten starken Roman von dem Leben ihrer Urgroßeltern, Großeltern und Eltern erzählt. Auslöser für die vielen Nachforschungen und Recherchen ist eine Postkarte, die ihre Mutter Lélia im Januar 2003 im Briefkasten findet. Die Postkarte enthält lediglich vier Vornamen: Ephraïm, Emma, Noémie und Jacques. Es sind die Namen der mütterlichen Großeltern, ihrer Tante und ihres Onkels. Alle vier wurden 1942 in Auschwitz ermordet.

    Heute habe ich, fort nach dem Lesen der letzten Seite, eine Mail an den Piper Verlag geschrieben. Unter Nennung des Titels ‚Die Postkarte‘ verspricht der Münchener Verlag, eine Empfehlung vergleichbarer Bücher zu schicken. Ich bin gespannt.

  • Das Philosophenschiff von Michael Köhlmeier

    Beim Lesen dieses Romans versuche ich mich daran zu erinnern, was ich über Lenin und die bolschewistische Sowjetunion noch weiß. Denn: In ‚Das Philosophenschiff‘ verschmelzen historische Ereignisse und die Fantasie des Autors. Die Passagierschiffe, auf denen Intellektuelle in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aus Russland deportiert wurden, gab es wirklich. Anouk Perlemann-Jakob ist dagegen Fiktion. Sie ist eine der Passagierinnen, die als jungen Mädchen zusammen mit ihren Eltern auf Lenins Befehl ins Exil deportiert wird. Während die meisten anderen Passagiere nach ereignislosen Tagen auf See in Lethargie verfallen, erkundet sie nachts Decks, deren Zutritt verboten ist. Dort trifft sie auf Lenin selbst. Dieser sitzt – nach seinem Schlaganfall – hilflos im Rollstuhl. Nacht für Nacht treffen sich die beiden beiden.

    Als 100jährige Frau erzählt Anouk Perlemann-Jakob, die es als Architektin zu Ruhm und Bekanntheit gebracht hat, einem österreichischen Schriftsteller ihre Geschichte. Als sie mit ihren Erzählungen zu Ende ist, gibt sie ihm vor seiner Rückfahrt nach Vorarlberg diese Ermahnung mit auf den Weg: „Aber vergessen Sie nicht, wer Sie sind: Sie sind der, dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt.“

  • Donnerstags im Fetten Hecht & Freitags in der Faulen Kobra von Stefan Nink

    Der Protagonist, der Autor nennt ihn schlicht Siebeneisen, lebt in Nordrhein-Westfalen, genauer in Oer-Erkenschwick. Aber dort bleibt er nicht. Als er donnerstags im Fetten Hecht erfährt, dass sein Freund Schatten 50 Millionen Euro geerbt hat, verlässt er diesen Ort mit dem westfälischen Dehnungs-e und macht sich auf Bitten von Schatten auf die Suche, sieben Miterben zu finden, ohne die die Erbschaft nicht wirksam wird. Natürlich leben die Sieben in den entlegensten Regionen der Welt… In seinen Roman wird deutlich, dass Stefan Link ist ein routinierter Reisebuch-Autor ist. Er erzählt humorvoll, spannend, sehr unterhaltsam.

    ‚Freitags in der faulen Kobra‘ ist sein zweiter Roman. Als Lokalredakteur Silbereisen an einem Yogakurs in einem indischen Palasthotel teilnimmt, bittet ihn ein Maharadscha um Hilfe und Silbereisen reist wieder los. „Im Fahrwasser des großen Entdeckers führt die Suche von Tonga nach Neuseeland, Kapstadt, Hawaii und Kanada. Und während sich Silbereisen mit Straußen, Eisbären und einem kleptomanischen Buschbaby herumschlagen muss und seine Freunde Wipperfürth und Schatten ihn aus dem Teehaus Zur faulen Kobra mehr oder weniger sinnvoll unterstützen, wird im Palast des Maharadschas ein ganz anderer Plan verfolgt.“( 1. Auflage, Limes Verlag, 2024)

  • Eine Frage der Zeit von Alex Capus

    Wo liegt der Tanganikasee? Eine Suche auf Google Maps beantwortet diese Frage in Sekunden: Der Tanganikasee (Tangajikasee) ist ein schmaler, langerstreckter See in Zentralafrika. Der längste Süßwassersee der Welt verbindet Sambia, die Demokratische Republik Kongo, Burundi und Tansania. ‚Eine Frage der Zeit‘ handelt von drei Werftarbeitern aus Papenburg im Emsland. 1913, im Geburtsjahr meiner Oma, bauen sie auf der Meyer Werft ein Dampfschiff, das sie gleich nach dem Stapellauf auf der Ems wieder in seine Einzelteile zerlegen, im Auftrag von Kaiser Wilhelm II. zum Tanganikasee transportieren und es dort wieder zusammensetzen. Doch mittlerweile ist der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Damit wird der See, dessen Ufer nun drei Kolonialmächte Gebiete ihr Eigen nennen, zu einem Kriegsschauplatz in den Tropen. Mittendrin die drei Papenburger, die von den weltpolitischen Ereignissen überrollt werden.

    Ein spannender und historischer Roman.

  • Kongo von David Van Reybrouck

    Der flämische Schriftsteller, Journalist, Archäologe und Historiker David Van Reybrouck – im August 2025 mit der Goethe-Medaillie ausgezeichnet – begleitet die Leserin/den Leser von 1870 bis ins Jahr 2010 durch die Geschichte des zentralafrikanischen Landes. Das Werk handelt vom Entdeckungsreisenden Stanley, von Belgien und König Leopold II., von über 30 Jahren Mobutu-Diktatur, vom legendären Boxkampf zwischen George Foresman und Muhammad Ali ‚rubble in the jungle‘ in Kinshasa und davon, dass „ein Stückchen Kongo in jedem Handy steckt“, den begehrten Rohstoffen des Kongos und der Rolle Chinas in der ehemaligen ‚Republik Zaire‘.

    Ein unglaublich gutes Buch, spannend, interessant und fundiert recherchiert.

  • Herr Klee und Herr Feld von Michel Bergmann

    Sechs Bücher von einem Autor in fünf Monaten lesen? Das ist – soweit ich mich erinnern kann – eine Premiere in meinem Leseleben. Aber Michel Bergmanns erfrischender Schreibstil, seine Erzählkunst, Themenauswahl und sein Humor haben mir so gut gefallen, dass ich nach der Lektüre von ‚Herr Klee und Herr Feld‘ sogleich auch ‚Die Teilacher‘, ‚Machloikes‘ (Band ein und zwei der Trilogie um jüdisches Leben in Frankfurt am Main), ‚Alles was war‘, ‚Weinhebers Koffer‘ und ‚Mameleben‘, ein Buch über Michel Bergmanns Mutter, die 1945 in einem Internierungslager in der Schweiz zur Welt gebracht hat, gelesen habe.

    Am besten gefallen hat mir der hier im Titel genannte Roman, Band drei der Trilogie. Er handelt von zwei leicht schrulligen älteren Brüdern: Der eine, Moritz, ein emeritierter Professor und praktizierender Jude, der andere ein ehemaliger Schauspieler in mittelmäßigen Dracula-Filmen.

    Und so beginnt er:
    „Meine Herren! Ich werde Sie verlassen! Moritz starrte sie an. Sein Löffel sank in die Suppe. Aber Frau Stöcklein. Warum denn, um Himmels willen? Alfred schaute nur kurz hoch und aß dann. weiter. Die Haushälterin blickte verlegen auf ihre Hände. Ich bin heute fünfundsechzig und …

    Alles Gute. Alles, alles Gute. Sie dürfen sich etwas wünschen. Ein Kochbuch, murmelte Alfred kauend. Moritz schaute zu seinem Bruder. Hast du etwas gesagt? Alfred sah Frau Stöcklein an. Kann ich den Pfeffer haben? Solange Sie noch unter uns weilen?“


    Leider ist Michel Bergmann im Juni 25, während ich ‚Herr Klee und Herr Feld‘ las, verstorben.

  • Die dreizehn Monate von Erich Kästner

    Wir nehmen Erich Kästner beim Wort. Schließlich hat ein Großstädter diesen feinen, schmalen Gedichtband für Großstädter geschrieben. Und so lesen mein Mann Thomas und ich, seit vielen Jahren begeisterte FrankfurterInnen, uns – immer am ersten Tag eines neuen Monats – ein Gedicht des Dresdeners vor. Illustriert hat diesen Gedichtband der von uns beiden sehr geschätzte Hans Traxler. Hier kommt ‚Der September‘:

    „Das ist ein Abschied mit Standarten
    aus Pflaumenblau und Apfelgrün.
    Goldlack und Stern flaggt der Garten,
    und tausend Königskerzen glühn.

    Das ist ein Abschied mit Posaunen,
    mit Erntedank und Bauernball.
    Kuhglockenläutend zehn die braunen
    und bunten Herden in den Stall.

    Das ist ein Abschied mit Gerüchen
    aus einer fast vergessenen Welt.
    Mus und Gelee kocht in den Küchen.
    Kartoffelfeuer qualmt im Feld.

    Das ist ein Abschied mit Getümmel,
    mit Huhn am Spieß und Bier im Krug.
    Luftschaukeln möchten in den Himmel.
    Doch sind sie wohl nicht fromm genug.

    Die Stare gehen auf die Reise.
    Altweibersommer weht im Wind.
    Das ist ein Abschied laut und leise.
    Die Karussells dreht sich im Kreise.
    Und was vorüber schien, beginnt.“

  • The Last King of Scotland von Giles Foden

    Ein junger Arzt aus Schottland wird Leibarzt eines brutalen Diktators. ‚I did almost nothing on my first day as Idi Amin’s doctor. I had just come from one of the western provences, where I’d worked in a bush surgery. Kampala, the city, seemed like paradise after all that.‘ Aber so gechillt, wie er es in diesen ersten Sätzen des Buches beschreibt, bleibt es natürlich nicht für den jungen Arzt. Ein unglaublich spannender Roman – oder sogar Thriller.

  • 1945 von Volker Heise

    Brigitte Eicke ist eine Sekretärin in Berlin, Traudl Junge Hitlers Sekretärin im sogenannten Adlerhorst, Kurt Vonnegut, genannt Billy, ein Soldat der US-Armee in den Ardennen, Helmut James Graf von Moltke, ein inhaftierter Widerstandskämpfer in Berlin, Yves Béon, ein KZ-Häftling in Mittelbau-Dora und Georgi Konstantinowitsch Schukow ist ein Marschall der Roten Armee in Berlin. Diese sechs Personen sind nur einige, aus deren Sicht Volker Heise, ein Regisseur, Dramaturg, Produzent und Dokumentarfilmer, in dieser Chronik das Jahr 1945 Revue passieren lässt.

  • Die Wilden – Eine französische Hochzeit von Sabri Louatah

    Le Figaro hat über diesen Roman geschrieben, er sei ein fesselndes Panorama der Entrechteten Frankreichs. ‚Die Wilden‘ ist der erste Band der Trilogie von Sabri Louatah und hat 702 Seiten. Es ist so spannend geschrieben, dass man die Geschichte der Familie Nerrouche aus Saint-Étienne liebsten in einem Rutsch durchlesen möchte. Jedenfalls ging es mir so. Band 2 ‚Die Wilden – Brüder und Feinde‘ und Band 3 ‚Die Wilden – Familientreffen‘ habe ich auch gelesen, aber der erste Band ist mein Favorit.

  • Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor von Steffen Schroeder

    Max Planck, der große Wissenschaftler aus Kiel, 1918 ausgezeichnet mit dem Nobelpreis für Physik, steht als alter Mann vor einer der wohl größten Herausforderung seines Lebens: Hitlers Reichskulturkammer fordert ihn auf, einen Beitrag zur Broschüre „Bekenntnis zum Führer“ zu verfassen. Erwin Planck, sein Sohn und Widerstandskämpfer, ist vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt worden. Der Vater verweigert das Bekenntnis.

    Aber nicht nur über das Leben und Wirken des Nobelpreisträgers Planck habe ich in diesem Roman vieles erfahren, sondern ebenfalls über Plancks Weggefährten Albert Einstein, der in Princeton lehrt, während sein Sohn Eduard in Burghölzli, einer Heilanstalt in Zürich, haarsträubende ‚Behandlungen‘ über sich ergehen lassen muss.

    Der Roman hat mich sehr gefesselt.

  • Trophäe von Gaea Schoeters

    Dass Löwen dreimal mit der Schwanzspitze wackeln bevor sie angreifen und Nashörner ihre unglaublich guten aber sehr kleinen Ohren unabhängig voneinander bewegen können, wusste ich vor der Lektüre dieses Buches nicht. Überhaupt hatte ich mir um das Thema Jagen bislang wenig Gedanken gemacht. Dank Gaea Schoeters, einer flämischen Autorin, Journalistin, Librettistin und Drehbuchautoren weiß ich nun, was man unter den den „Big Five“ versteht und habe schockiert weitergelesen, als in diesem Roman die „Big Six“ thematisiert werden. In ‚Trophäen“ geht es um viel mehr als nur die Großwildjagd. Es geht um den Wechsel von Perspektiven, um Notwendigkeiten und Eigennutz, um Moral und die Folgen der Kolonialzeit.